«Es herrscht ein hybrider Krieg, der auch uns betrifft»
Christian Dussey sagt, die Schweiz habe überdurchschnittlich viele radikalisierte Jugendliche. Der Geheimdienstchef warnt vor Russland und China. Und fordert mehr Personal.
Interview Tages-Anzeiger, Larissa Rhyn und Thomas Knellwolf
Ausländische Agenten, die in der Schweiz spionieren. Minderjährige, die jihadistisch motivierte Attentate planen. Zwei Konfliktherde in der Ukraine und im Nahen Osten: In all diesen Bereichen ist es der Nachrichtendienst des Bundes (NDB), der Entwicklungen vorhersehen und Schaden verhindern muss. Doch es gibt Probleme. Direktor Christian Dussey nimmt im Interview Stellung.
Herr Dussey, herzliche Gratulation!
(zögert einen Moment) Wir machen einfach unsere Arbeit.
Wir wollten dazu gratulieren, dass Sie einen russischen Agenten haben auffliegen lassen. Unseres Wissens haben Ihre Leute den Spion erwischt, ohne dass Sie von einem ausländischen Nachrichtendienst einen Tipp erhalten hatten. Das kommt selten vor.
Der Fall liegt nun bei der Bundesanwaltschaft. Ich kann deshalb nichts darüber sagen. Allgemein stecken Nachrichtendienste in einem Dilemma: Wir müssen diskret agieren, aber gleichzeitig müssen wir transparent sein, um das Vertrauen der Bevölkerung zu behalten. Ich bin aber sehr stolz auf das, was meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alltag leisten. Früher habe ich gern TV-Serien geschaut und Spionageromane gelesen. Seit ich NDB-Direktor bin, habe ich damit aufgehört. Was ich hier täglich zu sehen bekomme, ist viel interessanter.
Beunruhigend ist nur schon, was öffentlich wird: Der Agent schaffte Kriegsmaterial in die russische Handelsmission in Bern. Und bekannt sind auch mutmassliche Anschlagspläne der Russen gegen Exponenten der westlichen Rüstungsindustrie. Wie gross ist die russische Bedrohung in der Schweiz?
Es herrscht ein hybrider Krieg, der auch uns betrifft. Dazu gehören Desinformation, Destabilisierung. Es geht auch um die Sanktionen und deren Umgehung sowie um aggressive Spionage. Wie alle europäischen Länder sind wir auch von Cyberattacken betroffen. Klar ist: Wenn die Schweiz darauf nicht reagiert, wird sie leicht verwundbar. Und mit ihr der ganze europäische Kontinent.
Frustriert es Sie, wenn Sie einen Agenten erwischen und der Bundesrat dann Zurückhaltung übt und darauf verzichtet, die Person auszuweisen?
Die Schweiz hat während des Zweiten Weltkriegs viele Nachrichtendienstler im Land geduldet. Ich war aber auch acht Jahre lang in Genf tätig und habe gesehen, wie wichtig es ist, dass Verhandlungen dort vertraulich stattfinden können. Wenn alles ausspioniert wird, kann man nicht vernünftig verhandeln. Wir warnen seit mehreren Jahren schon davor, dass die grösste Bedrohung aus Russland kommt. Seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine wurden die Spionagetätigkeiten aggressiver.
Unsere Durchhaltefähigkeit nimmt kontinuierlich ab. Das Personal ist müde.
Die Schweiz hat als eines von wenigen Ländern keine russischen Agenten ausgewiesen, die als Diplomaten getarnt waren. Das erhöht doch die Risiken?
Wir stehen im konstanten Austausch mit dem Aussendepartement. Wenn wir merken, dass eine Tätigkeit illegal ist, haben wir die Pflicht, dies der Bundesanwaltschaft zu melden. Dann begleiten wir das Vorgehen.
Faktisch ist es so, dass alle 70 bis 80 russischen Spione, die Ihre Leute eruiert haben, unter Diplomatenstatus in der Schweiz bleiben dürfen. Das duldet kein anderes westliches Land.
Es gibt aussenpolitische Interessen, aber auch sicherheitspolitische. Es ist nicht am NDB, diese abzuwägen. Wir liefern dem Bundesrat die Grundlagen dafür. Mehr als die Agenten zu erkennen und zu melden, können wir nicht tun. Und selbst da stossen wir an unsere Grenzen.
Wie meinen Sie das?
Ich bin seit fast zweieinhalb Jahren in meiner Position. Das entspricht ungefähr der Dauer des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Der 24. Februar 2022 war ein Schock für Europa. Für den NDB bedeutet dies: Er muss sich dieser plötzlich veränderten geopolitischen und sicherheitspolitischen Lage mit unzureichenden Personalressourcen und erheblichen strukturellen Mängeln stellen. Darauf hat die Aufsichtsbehörde über den Nachrichtendienst bereits im Jahr 2021 hingewiesen.
Schlagzeilen macht aber vor allem Ihre Neuaufstellung des Dienstes, die für Unruhe sorgt. Es gab viele Kündigungen.
Wir stecken in einer internen Transformation, die dringend nötig war, um den NDB auf die Zukunft auszurichten. Damit verbunden ist eine sehr grosse Belastung für das Personal. Seit zweieinhalb Jahren herrscht Krieg in der Ukraine, und seit Anfang dieses Jahres haben wir eine neue Dynamik der terroristischen Bedrohung. Damit ist klar: Die Transformation reicht nicht, um die personelle Unterbesetzung des NDB auszugleichen.
Was sind die Konsequenzen?
Erstens nimmt unsere Durchhaltefähigkeit kontinuierlich ab. Das Personal ist müde. Zweitens hat sich unsere Fähigkeit verschlechtert, Bedrohungen für die Sicherheit der Schweiz und für ihre Bewohner zu erkennen und zu verhindern. Und für die kommenden Jahre ist keine Verbesserung der internationalen geopolitischen und sicherheitspolitischen Lage zu erwarten.
Was fordern Sie?
Es sind erhebliche Schritte zur Stärkung des NDB erforderlich, wenn wir diesen Trend umkehren wollen.
Wie viel zusätzliches Personal bräuchten Sie?
Darüber gibt es jetzt konkrete Diskussionen innerhalb des Departements.
Können Sie im Moment die Sicherheit der Schweiz garantieren?
Ja. Aber in den letzten Jahren haben die meisten europäischen Nachrichtendienste massiv ausgebaut.
Sie kennen die Lage der Bundesfinanzen. Und kaum eine Verwaltungseinheit ist so stark gewachsen wie der NDB. Seit der Gründung im Jahr 2010 hat sich das Personal fast verdoppelt.
Mir wäre es auch lieber, wenn wir nicht mehr Leute bräuchten – und eine einfachere Weltlage hätten.
Der Schweizer Nachrichtendienst ist auch deshalb im internationalen Vergleich klein, weil Bevölkerung und Politik ihm seit der Fichenaffäre Skepsis entgegenbringen.
Der gesetzliche Rahmen sieht ausgeprägte Kontrollen vor. Auf 30 meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommt eine Kontrolleurin oder ein Kontrolleur.
Eine Zunahme der chinesischen Spionage in der Schweiz ist sehr wahrscheinlich»
Kürzlich wurde in Genf ein Kanadier festgenommen, der für China spioniert haben soll. Sie beurteilen punkto Spionage China als zweitgrösste Gefahr nach Russland. Was ist hier das Problem?
Mit dem Aufstieg Chinas auf der internationalen Bühne und der immer stärkeren Blockbildung gewinnen die chinesischen Dienste stark an Bedeutung. Sie sind personell und finanziell entsprechend ausgestattet. Das bedeutet, dass eine Zunahme ihrer Spionageaktivitäten in der Schweiz in den nächsten Jahren sehr wahrscheinlich ist. Wir stellen fest, dass Schweizer Forschungsinstitute und Hochschulen ein grosses Interesse haben an der Sensibilisierungsarbeit, die wir machen. Wir klären Fragen wie: Was ist das Interesse von ausländischen Spionen? Worauf muss man achten, wenn man in ein anderes Land reist? Was macht man mit dem Telefon?
Entdecken Sie dort auch mehr Spionagefälle?
Zur Zahl der Fälle kann ich mich nicht äussern. Aber die Schweizer Forschung ist für viele Akteure interessant.
In Meiringen haben mehrere Chinesen ein Restaurant gleich neben dem Militärflugplatz gekauft, um diesen mutmasslich auszuspionieren. Weshalb ist das dem NDB erst nach drei oder vier Jahren aufgefallen?
Wir nehmen die Spionagebedrohung gegen militärische Infrastruktur sehr ernst. Aber die Sicherheit von Flugplätzen liegt nicht direkt in der Kompetenz des NDB. In Bezug auf Meiringen kann ich sagen, dass wir die Informationen von einem nationalen Partnerdienst erhalten haben. Wir haben sehr früh darauf reagiert.
Sind die Schweizer Flugplätze denn sicher vor Spionage? Britische und amerikanische Medien zweifeln das an.
Die Schweiz ist ein kleines Land. Wir haben keine riesigen Militärbasen wie die USA. Unser Abwehrdispositiv ist an unsere Grösse angepasst.
Wie stark sind Sie von ausländischen Partnern abhängig – beispielsweise von der CIA?
Der NDB pflegt den Nachrichtenaustausch mit über hundert Partnerdiensten verschiedener Staaten. Von einem einzelnen ausländischen Dienst sind wir nicht abhängig. Und wir liefern unseren Partnern ebenfalls wichtige Informationen.
In Zürich hat ein jihadistisch motivierter Jugendlicher dieses Jahr einen Juden attackiert und schwer verletzt. In Wien mussten Konzerte von Taylor Swift abgesagt werden, weil drei junge Jihadisten mutmasslich ein Attentat planten. Wie gross ist die Gefahr durch radikalisierte Jugendliche?
Die Terrorgefahr ist seit mehreren Jahren erhöht. Aber wir stellen fest, dass sich das Problem in den letzten Monaten weiter akzentuiert hat. In der Schweiz und in Europa gab es in den letzten Wochen mehrere Verhaftungen. Seit Anfang Jahr wurden europaweit rund 30 Personen verhaftet, weil der Verdacht bestand, dass sie terroristische Attentate planen. Das sind jetzt schon mehr Fälle als im ganzen Jahr 2023. Und die Verhafteten sind sehr, sehr jung. Meistens sind sie noch minderjährig.
Wie viele dieser 30 Fälle ereigneten sich in der Schweiz?
Dazu kann ich nur sagen: In der Schweiz haben wir überdurchschnittlich viele Fälle von radikalisierten Jugendlichen im Vergleich mit anderen europäischen Staaten.
Wie erklären Sie sich das?
Dass die Radikalisierung von Jugendlichen in Europa generell zugenommen hat, liegt daran, dass der Islamische Staat Anfang Jahr eine Propagandakampagne gestartet hat, wie wir sie seit langem nicht mehr gesehen haben. Er rief direkt dazu auf, Attentate in Europa zu begehen. Diese Kampagne wird durch die sozialen Medien verstärkt. Vor zehn Jahren war der Einfluss der sozialen Medien noch nicht so gross. Nun werden immer mehr Minderjährige im Internet radikalisiert – und zwar extrem schnell. Nicht alle handeln allein. Einige haben Kontakt zu Jihadisten, die im Ausland leben.
Die Verhafteten sind sehr, sehr jung. Meistens sind sie noch minderjährig.
Aber weshalb sind es in der Schweiz überproportional viele?
Die Prävention ist zentral. Wir vom NDB kommen beim Kampf gegen die Radikalisierung erst ganz am Schluss. Die Schulen, die Sportvereine, die Familien – sie alle können dabei helfen, festzustellen, wenn sich ein Jugendlicher radikalisiert, damit der Prozess früh genug gestoppt werden kann. Die Schweiz macht hier bereits schon sehr viel im Vergleich zu anderen Staaten. Wir stellen zwar eine Zunahme der Fälle fest, aber das kann auch daran liegen, dass wir ein gutes Präventionsnetz haben.
Wie entdecken Sie diese Jugendlichen?
Einen Teil der Fälle entdecken wir über unser Jihad-Monitoring im Internet. Die internationale Kooperation in diesem Gebiet ist exzellent, seit dem 11. September 2001 konnten wir sie konstant weiterentwickeln. Pro Jahr tauschen wir rund 20’000 Meldungen mit unseren internationalen Partnerdiensten aus. Und wir arbeiten auch eng mit den Kantonen zusammen. So konnten wir bereits Anschläge verhindern.
Wie viele Attentate hat der NDB in der Schweiz denn verhindert?
Ich kann leider keine Zahlen nennen, da unsere operativen Tätigkeiten vertraulich sind.
Was sind die Beweggründe der Jugendlichen?
Sie sind sehr unterschiedlich. Manche unterstützen den Jihadismus in den sozialen Medien, weil sie feststellen, dass sie so die Zahl ihrer Follower oder ihrer Likes erhöhen können. Sie wollen Aufmerksamkeit. Andere sind einsam und glauben, in einer radikalen Ideologie Zuflucht zu finden. Und manchmal spielen auch psychische Probleme eine Rolle. Ich habe Mitarbeiter, die sogar am Wochenende arbeiten und zu Familien nach Hause gehen, um mit den Eltern und den Kindern darüber zu sprechen. Der grosse Unterschied zu früher ist: Vor einigen Jahren gab es IS-Anhänger aus der Schweiz, die nach Syrien gereist sind. Jetzt sind die Jihadisten hier.

