«Der Ukraine-Krieg bedeutet für uns eine Zeitenwende»
Der Krieg in Osteuropa hat auch Folgen für die Schweizer Armee. Die Verteidigungsministerin würde eine Aufstockung begrüssen. Bei einem Angriff wäre die Schweiz allein.
15.03.2022 | Nebelspalter
Interview: Serkan Abrecht
Frau Bundesrätin, was ging in Ihnen vor, als Sie vom russischen Angriffskrieg erfahren haben?
Ich war schockiert und traurig, als ich die Bilder der Zerstörung gesehen habe; Bilder von Kindern, Frauen und Männern, die alles hinter sich lassen und flüchten müssen. Die Situation macht mich sehr betroffen. Es wird einem bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, ohne Angst und in Frieden zu leben, wie es uns in der Schweiz seit Jahrzehnten vergönnt ist.
Haben Sie mit einer Invasion gerechnet? Hat Sie der Nachrichtendienst darauf vorbereitet?
Der Nachrichtendienst hat den Bundesrat regelmässig informiert. Wir wussten, dass Vorbereitungen im Gang sind. Mit einem so schnellen und brutalen Einmarsch haben wir aber nicht gerechnet. Das hat viele überrascht und wird die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur auf den Kopf stellen.
Was haben Sie im Hinblick auf den Zustand unserer Armee gedacht? Haben sich Gedanken darüber gemacht, wie es um die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz steht?
Die Schweizer Armee ist grundsätzlich gut aufgestellt. Wie die Ukraine gehört auch die Schweiz weder der NATO noch der EU an – bei einem Angriff, wäre sie also auf sich allein gestellt. Als souveränes Land muss sie in der Lage sein, selber für ihre Sicherheit der Bevölkerung und des Landes zu sorgen. Und diese Sicherheit kostet etwas.
Sie haben selbst bei den vergangenen Armeebotschaften bei den Bodentruppen lediglich eine Werterhaltung von Panzern und Artillerie in Aussicht gestellt. Hat sich die Haltung des VBS diesbezüglich geändert?
Es war schon vor dem bewaffneten Angriff auf die Ukraine klar, dass wir die Luftwaffe erneuern und auch die Bodentruppen modernisieren müssen. Das hat oberste Priorität. Tun wir es nicht, klaffen bei uns und unseren Mitteln für den Schutz der Bevölkerung bald grosse Lücken auf. Zudem werden wir noch mehr in die Cyberabwehr investieren, auch das beantrage ich in der aktuellen Armeebotschaft. Angriffe im virtuellen Raum sind im Moment die grösste Bedrohung für die Schweiz.
FDP und SVP fordern eine Erhöhung des Armeebudgets um zwei Milliarden Franken. Wie stehen Sie diesen Anliegen gegenüber?
Die Armee richtet sich nach den zur Verfügung stehenden Finanzen. Das hatte zur Folge, dass wir innerhalb der mittel- und langfristigen Planung Prioritäten setzen mussten. Konkret mussten Beschaffungen auf der Zeitachse gestaffelt werden. Sollte der Armee mehr Geld zur Verfügung stehen, könnten die nötigen Beschaffungen beschleunigt werden. Wichtige Fähigkeitslücken zum Schutz der Bevölkerung und des Landes könnten rascher geschlossen werden.
Auch einzelne Stimmen in der SP sagen, dass die Armeestrategie wieder angepasst und auch die «konventionelle Kriegsführung» mehr gewichtet werden solle. Sehen Sie das auch so?
Im sicherheitspolitischen Bericht 2021 und in weiteren Grundlagendokumenten für die Planung und Modernisierung der Armee haben wir festgehalten, dass konventionelle Mittel weiterhin eine wichtige Rolle spielen und wieder stärker zur Verfolgung eigener Interessen eingesetzt werden. Diese Einschätzung der Bedrohungslage hat man lange kaum zur Kenntnis genommen.
Hat das VBS die sicherheitspolitischen Gefahren, die von ganz normalen territorialen Konflikten ausgeht, in der Vergangenheit nicht erkannt?
Was jetzt eingetreten ist, haben wir schon im letzten Jahr im sicherheitspolitischen Bericht beschrieben. Es ist die Aufgabe der Armee, die Situation laufend zu analysieren und zu antizipieren. Unsere Grundlagen stimmen, sie sind bereits auf eine markant verschlechterte Sicherheitslage ausgerichtet.
Hat man sich zu sehr an der Sicherheitspolitik der Nachbarn orientiert? Der Vorwurf, der nun überall im Raum steht: «In Europa herrschte jahrzehntelang eine sicherheitspolitische Naivität.» Wie sehen Sie das?
Wir haben uns eigene sicherheitspolitische Überlegungen gemacht. Dass ein Krieg mitten in Europa nun tatsächlich eingetreten ist, ist sehr traurig. Es bedeutet eine sicherheitspolitische Zeitenwende, eine Abkehr einer Entwicklung, die mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges eingeläutet worden ist. Es ist aber schon länger klar: Wir müssen uns auf eine instabilere Lage einstellen und gegenüber den Bedrohungen gewappnet sein.
Mit dem Krieg in der Ukraine geht jetzt eine Aufrüstung in vielen europäischen Staaten einher. Muss auch die Schweiz nachziehen?
Im Parlament wurden dazu einige Vorstösse eingereicht. Aus Sicht des VBS stellt sich tatsächlich die Frage, ob die heutige Investition von 0,7 bzw. 0,8 Prozent des BIP angesichts der verschlechterten Sicherheitslage genügen, um Land und Bevölkerung zu schützen. Sollte politisch eine Aufstockung der Mittel der Armee entschieden werden, beispielsweise auf 1 Prozent des BIP, sollte diese schrittweise erfolgen, mit einer kontinuierlichen Erhöhung der finanziellen Mittel.
Hand aufs Herz, wie kampfbereit wäre unsere Armee bei einem Krieg überhaupt noch?
Im Vergleich zu anderen Ländern steht unsere Armee gut da. Persönliche Ausrüstung und persönliche Bewaffnung sind für alle vorhanden. Bei anderem, schwerem Material gibt es tatsächlich auch Lücken. Diese müssen so rasch wie möglich geschlossen werden.
Welche Mittel fehlen der Schweiz momentan?
Ende der 2020er Jahre werden wir grosse Systeme ersetzen, wie zum Beispiel die Kampfjets und gepanzerte Fahrzeuge, weil sie an ihr Nutzungsende kommen. Die Erneuerung der Luftwaffe hat dabei oberste Priorität. Dann müssen die Bodentruppen modernisiert werden. Parallel dazu werden wir uns noch besser gegen Cyberattacken wappnen müssen.
Reicht eine Aufstockung von 20’000 Soldaten überhaupt? Müssten wir nicht von deutlich höheren Zahlen wie 200’000 Soldaten sprechen?
Auch dazu haben wir uns bereits vor Jahren Gedanken gemacht. Im Bericht über die Zukunft der Bodentruppen haben wir dem Bundesrat 2019 drei Szenarien präsentiert. Der Bundesrat hat sich für das mittlere Szenario entschieden. Es setzt einen Sollbestand von 100’000 Armeeangehörigen voraus und ist auf die Abwehr hybrider Bedrohungen ausgerichtet. Eine Erhöhung auf 120’000 hätte den Vorteil, dass unsere Durchhaltefähigkeit erhöht würde.
Sie haben kürzlich die linken Parteien dazu aufgefordert, ihre Unterschriftensammlung für die Initiative «Stopp F-35» zu stoppen. Halten Sie es für richtig, dass ein Mitglied der Exekutive in einen solchen direktdemokratischen Prozess eingreift?
Ich habe die Initianten eingeladen, ihr Anliegen angesichts der instabilen Weltlage nochmals zu überprüfen. Wir können uns keine Verzögerungen leisten, sonst riskieren wir spätestens ab 2030 eine Sicherheitslücke, wenn wir die alten F/A-18 aus dem Betrieb nehmen müssen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist noch deutlicher geworden, wie wichtig genügend Mittel zum eigenen Schutz sind – dem müssen wir aus sicherheitspolitischen Überlegungen Rechnung tragen.
Zuletzt: Sehen Sie es als längerfristig nachhaltig, die Armee auf einem solch niedrigen Bestand wie heute zu halten?
Die Frage nach zusätzlichen personellen Mitteln ist berechtigt und sorgfältig zu prüfen. Der Schlussbericht zur Weiterentwicklung der Armee wird Vorschläge enthalten, wie die Bestände stabilisiert werden können und die Frage aufnehmen, ob und wie die Bestände erhöht werden sollen. Parallel prüfen wir zwei Varianten für eine grundlegende Anpassung des heutigen Dienstpflichtsystems. Dazu hat der Bundesrat vor Kurzem einen Bericht verabschiedet. Wir sind also gespannt, wie die Vorschläge ankommen. Unser Milizsystem lebt von der Zustimmung der Bevölkerung.