«Wir müssen über die Neutralitätspolitik diskutieren – und abwägen»
Die aktuelle Diskussion um die RUAG, die Neutralität der Schweiz, die Zusammenarbeit mit der NATO: Die Chefin VBS Viola Amherd steht im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» zu verschiedenen Themen Red und Antwort.
30.08.2023 | Tages-Anzeiger
Interview: Larissa Rhyn und Mario Stäuble
Frau Amherd, die Ruag macht seit Jahren Negativschlagzeilen. Zuerst wurde der Konzern gehackt, dann kamen mehrere Korruptionsfälle zum Vorschein - und jetzt kommt heraus: Das Unternehmen hat alte Panzer doppelt verkauft. Was läuft da schief?
Um diese Frage zu klären, habe ich eine externe Untersuchung eingeleitet. Der Bundesrat hat die Ruag 2018 in zwei Teile getrennt: um das Reputationsrisiko zu reduzieren, um mehr Transparenz zu schaffen und die heiklen Geschäfte zu privatisieren. Der Schweizer Teil, die sogenannte Ruag MRO, sollte primär als Kompetenzzentrum für die Armee behalten werden. Jetzt kommen Altlasten zum Vorschein. Vielleicht kommt da noch mehr. Ich hoffe es nicht, kann aber dafür nicht die Hand ins Feuer legen.
Sie haben eine Untersuchung rund um die Panzergeschäfte angeordnet. Das tun Sie häufig wenn in Ihrem Departement Probleme auftreten. Ist das Ihre Strategie? Ein Thema so lange klein zu halten, bis es die Öffentlichkeit kaum noch interessiert?
Überhaupt nicht. Es ist so: Wenn es irgendwo Probleme gibt, dann will ich, dass die auf den Tisch kommen und nicht versteckt werden. Ans Licht kommen sie sowieso früher oder später. Da schauen wir besser, dass wir sie aufarbeiten. Entscheide zu fällen, ohne dafür Grundlagen zu haben, wäre fahrlässig. Ich entscheide nicht nach Gefühl, sondern aufgrund von Fakten.
Sie übernahmen 2019 als neue Verteidigungsministerin die politische Verantwortung für die Ruag - kurz nach dem Entscheid des Bundesrats, den Konzern aufzusplitten.
Als ich angefangen habe, ging es darum, die Neuorganisation umzusetzen. Als der Bundesrat den Verwaltungsratspräsidenten und die Generalversammlung die Mitglieder besetzt hat, habe ich die Kandidatinnen und Kandidaten einem Assessment unterzogen. Für mich waren Transparenz, Vertrauen und Governance wichtig. Bei der Governance gab es Verbesserungspotenzial.
Die neuen Mitglieder des Verwaltungsrats können nichts für einen mutmasslichen Korruptionsfall, der die Ruag gerade einholt. Aber sie verantworten den gescheiterten Versuch, alte Leopard-1-Panzer aus Italien an die deutsche Firma Rheinmetall zu verkaufen.
Deshalb habe ich die Untersuchung in Auftrag gegeben. Ich will zum Beispiel wissen: Hat der Verwaltungsrat die nötigen Informationen erhalten oder nicht? Das ist ganz wichtig. Für die Zusammenarbeit zwischen Ruag und Bund muss eine Vertrauensbasis da sein. Die hatte ich bisher - und die habe ich immer noch -, aber ich will jetzt genau wissen, was passiert ist.
Wann genau haben Sie von den Plänen gehört, alte Leopard-1-Panzer abzustossen?
Ich habe im Januar Kenntnis bekommen von der Kaufanfrage. Mir wurde gesagt, dass die Ruag informell beim Seco angefragt habe ...
... das für den Export von Kriegsmaterial zuständig ist.
Das Seco gab damals eine informelle positive Ersteinschätzung ab und antwortete, der Verkauf sollte machbar sein, er falle unter eine Ausnahme des Kriegsmaterialgesetzes.
Was so nicht stimmte.
Das Seco wies die Ruag damals darauf hin, dass noch eine formelle Anfrage nötig sei.
Aber dann unterschrieb die Ruag einen Kaufvertrag mit Rheinmetall.
Davon habe ich erst nach der Vertragsunterzeichnung erfahren. Als Juristin habe ich mich darüber aufgeregt. Ich habe gefragt: Weshalb wurde der Vertrag unterschrieben, bevor eine formelle Antwort des Seco da war? Es hiess dann, im Vertrag gebe es einen Vorbehalt zum politischen Entscheid.
Das heisst, das Vorgehen war aus Ihrer Sicht falsch?
Rein rechtlich gesehen kann man es so machen, wenn alle informiert sind. Aber ich persönlich hätte zuerst die formelle Anfrage gestellt.
Weil es aus Ihrer Sicht bei einem so politischen Geschäft zwingend ist, zuerst die Grundsatzfrage zu klären: Ist der Verkauf mit der Neutralität vereinbar?
Ich hätte zuerst die Grundsatzfrage geklärt, ja.
Jetzt kommen Altlasten zum Vorschein. Vielleicht kommt da noch mehr. Ich hoffe es nicht, kann aber dafür nicht die Hand ins Feuer legen.
Hat das Vorgehen der Ruag Ihr Vertrauensverhältnis zur Führung beeinträchtigt?
Die Weisungsbefugnis gegenüber der Geschäftsführung obliegt dem Verwaltungsrat. Dieser hat betreffend die operative Führung der Ruag eine externe Untersuchung in Auftrag gegeben. Aufgrund dieses Berichts sind die CEO und der Verwaltungsrat übereingekommen, dass man sich trennt. Das habe ich so zur Kenntnis genommen.
Wie ist Ihr Vertrauensverhältnis zu Nicolas Perrin, dem Ruag-Präsidenten?
Das Verhältnis ist gut.
Finden Sie, er hat seine Aufsichtspflicht wahrgenommen?
Die von mir angeordnete Untersuchung soll unter anderem die se Frage klären.
Haben Sie im Lauf des Panzergeschäfts in Italien beide Augen zugedrückt, weil Sie den Verkauf persönlich gern bewilligt hätten, um indirekt der Ukraine zu helfen?
Überhaupt nicht. Als Anwältin schaue ich genau hin. Da muss alles sauber und korrekt sein. Alles andere geht nicht.
Dann anders: Haben Sie lange nicht interveniert, weil Sie gehofft haben, dass der Bundesrat über den Verkauf der Leopard-Panzer gar nicht entscheiden muss? Dass stattdessen das Seco eine Ausnahme findet, welche die Lieferung der Panzer an die Ukraine erlaubt?
Als ich die erste informelle Antwort des Seco gesehen habe, dachte ich, es wäre gut, wenn die Ruag diese alten Panzer verkaufen kann. Wir haben die Ruag damals aber darauf hingewiesen, dass sie eine offizielle Anfrage stellen muss.
Die Glaubwürdigkeit der Schweiz und der Rüstungsindustrie leidet doppelt: weil ein angebahntes Geschäft platzt, da die politische Rückendeckung fehlt. Und weil sich jetzt herausgestellt hat, dass sie einen Teil dieser Panzer doppelt verkauft hat. Was bedeutet das für den Ruf bei sicherheitspolitischen Partnern?
Die Ruag hat Rheinmetall klar informiert, dass eine formelle Bewilligung durch das Seco beziehungsweise den Bundesrat notwendig ist.
Aber dass die 25 Panzer schon einmal verkauft worden waren, hat Rheinmetall wahrscheinlich nicht gewusst.
Die Ruag hat einen Zusatz zum Kaufvertrag mit Rheinmetall abgeschlossen, in dem auf die eigentumsrechtliche Unsicherheit der 25 Panzer hingewiesen wurde.
Nochmals: Was heisst das für den Ruf des Landes? Wenn man die Affäre aus dem Ausland betrachtet, entsteht doch der Eindruck, die Schweiz sei eine Bananenrepublik.
Inwieweit das im Ausland wahrgenommen wird, weiss ich nicht. Es ist sicher nicht gut, wenn so etwas passiert. Aber ob das den Ruf der Schweiz dermassen schädigt? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Kommt das Thema zur Sprache, wenn Sie mit dem deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius sprechen?
Das war bei meinen internationalen Kontakten kein Thema. Thema waren jeweils die Wiederausfuhrverbote für Schweizer Kriegsmaterial.
Sie haben das Seco bereits angesprochen. Haben sich dessen Waffenexportfachleute richtig verhalten?
Ja. Sie haben eine informelle Ersteinschätzung vorgenommen, aber auch klar gesagt, es brauche noch eine offizielle Anfrage, die dann abgelehnt wurde.
Und der Austausch mit dem verantwortlichen Wirtschaftsminister Guy Parmelin hat funktioniert?
Ja, sicher! Er hat sein Büro gleich nebenan, wir trinken ab und zu einen Espresso zusammen. Wir tauschen uns regelmässig aus.
Sicher reden Sie mit ihm auch über die Neutralität. Der Bund bezeichnet diese als «Mittel zum Zweck» zur Wahrung der aussenpolitischen Interessen. Nach eineinhalb Jahren Krieg in der Ukraine: Erreicht das Mittel seinen Zweck noch?
Das ist eine Diskussion, die wir jetzt führen müssen. Im Bundesrat, im Parlament, aber auch mit der Bevölkerung. Die Neutralität ist nach wie vor hoch im Kurs, aber jeder versteht etwas anderes darunter.
Was verstehen Sie darunter?
Für mich ist wichtig, dass wir Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik auseinanderhalten. Das Neutralitätsrecht - das ist der Kern, der muss eingehalten werden, davon bin ich überzeugt. Wir unterstützen keine Kriegspartei militärisch. Über die Neutralitätspolitik müssen wir jedoch diskutieren - und abwägen.
Und wie machen Sie ganz persönlich diese Abwägung?
Neutralität hat eine Wirkung, wenn sie im Inland gestützt wird und im Ausland verstanden wird. Ein konkretes Beispiel sind die Wiederausfuhrverbote von Schweizer Waffen für andere Staaten.
Finden Sie, dass die Schweiz mit der aktuellen strikten Auslegung der Neutralität ihre aussenpolitischen Interessen nicht wahrt?
Eine strikte Auslegung, welche die gleiche Distanz zu zwei Kriegsparteien verlangt, sogar in einem Fall, bei dem Aggressor und Angegriffener klar sind - ich glaube, das wird international nicht verstanden. Das wurde mir bei meinen internationalen Kontakten immer wieder gesagt.
Einer dieser Kontakte ist Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er hat Ihnen gesagt, die Schweiz solle einen Vorschlag machen, wie man sich eine engere Zusammenarbeit mit der Nato vorstelle. Was haben Sie ihm nun vorgeschlagen?
Wir sind daran, ein «Individually Tailored Partnership Programme» auszuarbeiten, also eine Partnerschaft, die auf die Schweiz zugeschnitten ist. Darin halten wir fest, wie wir künftig mit der Nato kooperieren wollen. Wir können uns zum Beispiel vorstellen, mehr Personal als bislang zu entsenden, das in den Nato-Strukturen Einsitz nimmt. Damit wir besser verstehen, wie diese Gremien funktionieren, und daraus lernen. Und es gibt sogenannte Centers of Excellence wie das Cyber Defence Center in Tallinn in Estland, wo wir bereits vertreten sind. Wir wollen aber auch bei Übungen mehr mitmachen. Das muss alles neutralitätsrechtlich konform sein, das ist klar. Solange wir keine Verpflichtungen eingehen, ist das der Fall.
Was neutralitätsrechtlich möglich ist, war ja der Kern dieser Abklärungen. Kann nun die Schweiz mit der Nato den Bündnisfall üben - alle Länder verteidigen gemeinsam einen Partnerstaat, der angegriffen wird?
Der Bündnisfall ist etwas viel gesagt. Aber wir können künftig an Verteidigungsübungen teilnehmen. Wir dürfen uns einfach nicht zu kollektiver Verteidigung verpflichten, weder rechtlich noch durch Sachzwänge. Das lässt sich einhalten.
Von wem stammt denn diese Einschätzung auf Schweizer Seite?
In meinem Departement analysiert das die Abteilung Sicherheitspolitik. Sie arbeitet unter anderem mit der Direktion für Völkerrecht des Aussendepartements zusammen.
Und die Nato hat ein Interesse, die Schweiz bei diesen Übungen mitmachen zu lassen auch wenn es aus Bern heisst: «Im Ernstfall sind wir dann nicht dabei»?
Die Nato ist grundsätzlich offen für eine breite Zusammenarbeit. Das Programm zur Zusammenarbeit ist wie gesagt in Erarbeitung.
Die Saga der Ruag-Panzer in Italien: Eine Chronologie
- 2016: Die Ruag kauft in Italien 100 alte Leopard-1-Kampfpanzer und Ersatzteile. Preis des Pakets laut einem Dokument, aus dem der «SonntagsBlick» zitiert: 7,3 Millionen Franken.
- 21. März 2018: Der Bundesrat beschliesst, die Ruag in zwei Teile aufzusplitten.
- 1. Januar 2019: Viola Amherd wird als Nachfolgerin von Guy Parmelin VBS-Chefin.
- 27. November 2019: Die deutsche Firma Global Logistics Support (GLS) kauft 25 alte Panzer - angeblich für 500 Euro pro Stück.
- 24. Februar 2022: Beginn des Ukraine-Kriegs.
- 28. März 2022: Ruag bestätigt der GLS den Kauf der 25 Panzer, jetzt ist aber die Rede von 6500 Euro pro Stück.
- Januar 2023: Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall interessiert sich für 96 Panzer. Diese sollen in Deutschland aufgefrischt werden und dann in der Ukraine zum Einsatz kommen. Ruag fragt informell beim Seco an, ob ein Export aus Italien möglich wäre. Die - ebenso informelle - Antwort ist positiv. Das Seco weist aber darauf hin, dass noch eine offizielle Freigabe nötig ist. Auch Verteidigungsministerin Viola Amherd wird informiert.
- 13. Februar 2023: Ruag und Rheinmetall unterzeichnen einen Kaufvertrag über 96 Panzer - unter dem Vorbehalt, dass die Freigabe noch folgt.
- 3. März 2023: Der «Tages-Anzeiger» berichtet über das Geschäft
- 28. Juni 2023: Der Bundesrat entscheidet, das Gesuch für den Verkauf der Panzer abzulehnen. Damit ist das Geschäft gescheitert. (ms/rhy)