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Air2030: «Wir stellen die Weichen für die nächsten 40 Jahre»

Weshalb braucht die Schweiz ein System der bodengestützten Luftverteidigung grösserer Reichweite (Bodluv GR)? Wie ist der Zusammenhang mit dem Programm Air2030? Wo stehen wir in der Evaluation? Markus Graf, Projektleiter Bodluv GR, steht Red und Antwort.

20.01.2021 | Kommunikation armasuisse, Nadine Schröder

 

Markus Graf, weshalb braucht die Schweiz neben dem neuen Kampfflugzeug auch eine bodengestützte Luftverteidigung grösserer Reichweite?

Die Luftwaffe ist für militärische Einsätze im Luftraum zuständig. Ihre Aufträge umfassen den Schutz des Luftraums, den Lufttransport und die luftgestützte Nachrichtenbeschaffung. Die bodengestützte Luftverteidigung grösserer Reichweite erbringt ihre Leistungen ausschliesslich im Aufgabenbereich zum Schutz des Luftraums, welcher die Wahrung der Lufthoheit und die Luftverteidigung unterscheidet. Sie kann den Schutz der ihr zugeteilten Räume über einen langen Zeitraum und ohne Unterbruch mit einer hohen Bereitschaft sicherstellen und damit die Kampfflugzeuge entlasten. Das System bodengestützter Luftverteidigung grösserer Reichweite stellt aber nicht nur den Schutz sicher, sondern erzeugt alleine durch sein Vorhandensein eine abhaltende Wirkung und schränkt die Handlungsfähigkeit eines möglichen Angreifers stark ein.

Im Projektteam Bodluv GR sind die Mitarbeitenden aus verschiedenen VBS-Organisationseinheiten zusammengestellt. Weshalb ist das so und was ziehen Sie für Erfahrungen daraus?

Der Projektaufbau und die Umsetzung des Projekts Bodluv GR erfolgt nach den Grundsätzen der Projektmanagementmethode HERMES VBS. Entsprechend sind verschiedene Organisationen des VBS bzw. aus dem Armeestab, der Logistikbasis der Armee, der Führungsunterstützungsbasis der Armee, der Luftwaffe und der armasuisse für spezifische Teilprojekte verantwortlich. Dabei gibt es mehrere organisationsübergreifende Arbeitsteams, welche ihre Themen mit ihrem Fachwissen und ihrer Expertise bearbeiten. Meine Erfahrungen mit dieser Zusammenstellung sind durchwegs positiv. Alle relevanten Interessenvertreterinnen und -vertreter waren von Beginn weg im Projekt integriert und konnten so die Bedürfnisse ihrer Stammorganisationen einbringen. Auf dieser Basis können wir nun gemeinsam die technischen Fakten analysieren. Dabei schätze ich den positiven Umgang untereinander und die konstruktive Lösungsfindung bei Sachproblemen. Die Mitglieder des Projektteams sind seit dem Projektstart hochmotiviert, lassen sich durch Veränderungen nicht beirren und setzen sich engagiert für ihre Aufgaben ein. Das beeindruckt mich stark und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein.

armasuisse hat im November 2020 die zwei Offerten der Kandidaten für ein neues bodengestütztes Luftverteidigungssystem grösserer Reichweite erhalten. Wie geht es nun weiter?

Die Projektteammitglieder analysieren die Angaben der Kandidaten zu den technischen Fragen unserer Offertanfrage. Der Aufbau der Fragen beinhaltet die vier Hauptevaluationskriterien Wirksamkeit, Produktesupport, Kooperation und dem direkten Offset. Pro Kandidat werden die entsprechenden Fachberichte erstellt. Dabei wird das Prinzip «Kenntnis nur, wenn nötig» weiter angewendet. Somit sieht jedem Projektteammitglied nur die Informationen, die zur Erstellung des zugewiesenen Fachberichtes notwendig sind. Erst wenn die Fachberichte finalisiert sind, werden die beiden Kandidaten miteinander verglichen und auf der Nutzenachse abgebildet. Die Informationen aus der Kostenachse ist keinem der Teams auf der Nutzenseite bekannt, sodass eine reine Nutzwertbetrachtung durchgeführt werden kann.

Die Resultate fliessen zusammen mit einer umfassenden Risikoanalyse in den Bodluv GR Evaluationsbericht ein. Dieser bildet die Grundlage für die Typenwahl durch den Bundesrat, welche im zweiten Quartal 2021 erwartet wird. Anschliessend soll das Projekt Bodluv GR, wie auch das Projekt NKF, Teil der Armeebotschaft 2022 sein. Nach der Genehmigung der Armeebotschaft können die Beschaffungsverträge unterschrieben werden, womit dann die Produktion beim Hersteller anläuft. Die Auslieferung der Waffensysteme soll zwischen 2025 und 2030 erfolgen.

Das Projekt Bodluv GR läuft bislang in der Öffentlichkeit unter dem Deckmantel des Projekts NKF. Bedauern Sie das?

Zuallererst bin ich froh, dass es im Projekt NKF weitergeht, denn wie eingangs erklärt, ergänzen sich die beiden Waffensysteme in ihren Fähigkeiten und in ihrer Wirkung. Zudem wissen wir aus der Vergangenheit, dass die Emotionen rund um die Beschaffung von Kampfflugzeugen hoch sind. Unbesorgt lässt uns das nicht, denn wir arbeiten ja im gleichen Programm und sind darum bedacht, dass die beiden Systeme zusammenarbeiten können. Hingegen bedauern wir es nicht, etwas weniger in der Öffentlichkeit zu stehen, denn das gibt uns die Möglichkeit, uns voll und ganz der Evaluation zu widmen.

Das Thema «Abhängigkeit» wurde bis anhin nur mit dem Kampfflugzeug in Verbindung gebracht. Wie sieht dies bei Bodluv GR aus – wie abhängig ist das System von seinen Herstellern?

Die Schweiz strebt möglichst viel Autonomie an. Eine vollständige Unabhängigkeit vom Herstellerunternehmen und -land ist in einer globalisierten Welt nicht möglich. Der Aufbau und Erhalt des notwendigen Know-hows, sowie die Beschaffung aller Ersatzteile um das Waffensystem in der Schweiz auf Dauer völlig selbständig betreiben zu können, wären viel zu kostspielig und wirtschaftlich ineffizient. Dies insbesondere in Anbetracht der zu beschaffenden Anzahl von Systemen. Verschiedene Massnahmen sollen aber die Abhängigkeiten reduzieren. Wenn der Materialfluss über die Grenze nicht sichergestellt ist, soll die Durchhaltefähigkeit mindestens sechs Monate betragen. Nicht zuletzt soll die sicherheitsrelevante Technologie- und Industriebasis (STIB) der Schweiz dank Offsets (Kompensationsgeschäfte) durch zusätzliches Know-how und verbessertem Marktzugang gestärkt werden.

Lassen sich mit dem neuen Bodluv-System auch Drohnen abwehren? Gegen welche weiteren Gefahren ist das neue Bodluv-System wirksam?

Das zukünftige Bodluv GR System kann unbemannte Flugobjekte bekämpfen. Der Fokus liegt dabei auf den grossen militärischen Drohnen, welche sehr hoch fliegen und damit ausserhalb der Reichweite der heutigen Mittel der bodengestützten Luftverteidigung liegen. Die Armee kann diese heute ausschliesslich mit Kampfflugzeugen bekämpfen. Hingegen gehören die für jedermann kommerziell erhältlichen Drohnen nicht zum Aufgabenbereich von Bodluv GR. Weiter wird uns Bodluv GR vor Marschflugkörpern, Flugzeugen und Lenkwaffen schützen können. Die Abwehr ballistischer Boden-Boden-Lenkwaffen ist keine Anforderung an die angebotenen Systeme, jedoch klärt das VBS in der laufenden Evaluation diese Fähigkeiten ebenfalls ab.

Das neue Bodluv-System soll die Schweiz für 30-40 Jahre vor Gefahren aus der Luft schützen. Wie wird sichergestellt, dass die Version, die jetzt evaluiert wird, zu dem Zeitpunkt nicht bereits veraltet ist?

Dazu trägt eine rüstungspolitische Vorgabe aus den Anforderungen des Bundesrates zur Beschaffung von NKF und Bodluv GR bei. Die in Frage kommenden Systeme müssen grundsätzlich der Konfiguration entsprechen, wie sie bei den Armeen ihrer Herstellernationen im Einsatz stehen oder eingeführt werden sollen. Der Austausch mit den Regierungen hat gezeigt, dass diese Systeme heute und auch künftig in ihren Heimatländern eine tragende Rolle spielen werden. Deshalb wird unabhängig von unserer Evaluation kontinuierlich an der Weiterentwicklung dieser Systeme gearbeitet. In der langen Nutzungsphase dieser Systeme kann die Schweiz an diesen Weiterentwicklungen partizipieren und sich somit fortlaufend gegen neue Bedrohungen aus der Luft schützen.

Zum Schluss, was sind die bisherigen lessons learned aus dem Evaluationsprozess Bodluv GR – was würden sie angehenden Projektleitenden mit auf den Weg geben?

Ich denke, dass die Herangehensweise und Erkenntnisse bei vielen Projekten unabhängig ihres Umfangs und Sichtbarkeit nach aussen sehr ähnlich sind, und HERMES VBS unterstützt diesen Prozess. Es beginnt mit einer sauberen Erarbeitung der Grundlagen unter der Verantwortung des Armeeplans, selbstverständlich in Zusammenarbeit mit allen Organisationen. Klare Vorgaben und Abgrenzungen sind Kernelemente des Projektauftrages. Bei grösseren Projekten ist einerseits der aktive Austausch mit den Teilprojektleitern und Projektmitarbeitenden sehr wichtig, andererseits der passive Austausch über gemeinsam nutzbare Datenablagen. Die Kommunikation nach aussen stellt noch einmal andere Anforderungen, um Diskussionen mit den Kandidaten, Anfragen aus der Programmführung, der Politik, von Medien oder von Bürgern konsequent nachvollziehbar zu beantworten.

Angaben zur Person

Markus Graf (47) ist diplomierter Maschinenbauingenieur HTL und hat ein NDS FH als Wirtschaftsingenieur abgeschlossen. Während 20 Jahren hat er in einer Schweizer Aviatik Unternehmung verschiedene Stationen als Techniker, als Fachingenieur, als Führungsverantwortlicher und als Projektleiter in der Produktion, Instandhaltung, Instandsetzung und Modernisierung von militärischen Jets, Helikoptern und Lenkwaffen gearbeitet. Er ist 2017 in die armasuisse eingetreten und betreute als Projektleiter bis Mitte 2018 die beiden Helikopterflotten Super Puma und Cougar in den Bereichen Systemführung und Änderungsdienst. Seit Anfang 2018 ist er der Leiter des Projekts «Bodengestützte Luftverteidigung grösserer Reichweite».

Air2030

Das Programm Air2030 hat den Schutz des Schweizer Luftraumes weit über das Jahr 2030 hinaus zum Ziel. Dies soll, neben dem neuen Kampfflugzeug (NKF), mit der Beschaffung eines bodengestützten Luftverteidigungssystems grösserer Reichweite (Bodluv GR) und der Erneuerung der Führungs- und Einsatzsystems (C2Air) sowie dem Teilersatz des Radarsystems (Florako) geschehen. Für die Beschaffung des neuen Kampfflugzeuges und des bodengestützten Luftverteidigungssystems grösserer Reichweite hat der Bundesrat dem VBS ein Kostendach von maximal acht Milliarden Franken zugesprochen.

Dossier Air2030

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