«Nach ein paar Wochen wäre Schluss»
Der Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli glaubte nicht, dass Russland in der Ukraine einmarschieren würde. Angesichts der jetzigen Lage müsse die Schweiz dringend ihre Truppen modernisieren.
09.03.2022 | Tages-Anzeiger
Interview: Beni Gafner und Edgar Schuler
Wie haben Sie von der russischen Invasion in der Ukraine erfahren?
An jenem Morgen bin ich um 4 Uhr erwacht – das passiert mir sonst selten. Darum konnte ich via Twitter Putins Rede live mitverfolgen. Dann ging es los: Die ersten Nachrichten über weitreichende Angriffe trafen ein …
Die Geheimdienste sagten schon Wochen zuvor den Kriegsausbruch voraus.
Klar, diese Einschätzungen waren bekannt. Dennoch hielt ich eine umfassende Invasion in der Ukraine für unwahrscheinlich. Denn: Militärisch ist der Krieg für Russland zwar mit grossem Aufwand zu gewinnen, aber eine Besetzung ist militärisch nicht realistisch. Und politisch ist der Krieg nicht zu gewinnen.
Sie vertrauen eher Ihrem eigenen Urteil als dem Nachrichtendienst?
Nachrichtendienste erarbeiten verschiedene Szenarien und stellen uns diese zur Verfügung. Meine persönliche Einschätzung war, dass Russland keinen umfassenden Krieg beginnen würde. Ich habe mich geirrt.
Wie beurteilen Sie die Lage in der Ukraine heute?
In einer ersten Phase wollte Putin mit Luftlandeaktionen und leicht bewaffneten Spezialtruppen die Regierung Selenski schnell stürzen. Das ist nicht gelungen. In der laufenden zweiten Phase rücken schwerer bewaffnete Truppen vor, aber dieser Vormarsch ist offensichtlich ins Stocken geraten.
Und was ziehen Sie daraus für Schlüsse?
Es ist noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Was wir aber wissen: Wir haben bisher nichts gesehen, was unseren Annahmen fundamental widerspricht.
Hätte für ein kleines, auf sich allein gestelltes Land wie die Schweiz bei einem solchen Krieg gegen einen überlegenen Gegner überhaupt eine Überlebenschance?
Davon bin ich felsenfest überzeugt. Unsere Planungen sind darauf ausgerichtet.
Wäre es nicht besser, dass wir uns der Nato anschliessen oder ein Verteidigungsbündnis mit der EU eingehen?
Die Nato kommt für uns neutralitätsrechtlich nicht infrage. Und die EU ist keine militärische Verteidigungsorganisation.
Wie lange könnte die Schweiz allein auf sich gestellt einen Verteidigungskrieg führen?
Mit unseren heutigen Mitteln wäre nach ein paar Wochen Schluss. Aber: Im Verteidigungsfall würde die Neutralität hinfällig. Dann könnten und müssten wir uns mit anderen Staaten verbünden, allenfalls auch mit der Nato.
Wir erleben in der Ukraine einen klassischen Krieg, bei dem Infanterie, Panzer und Artillerie zentrale Rollen spielen. Ihre Kernkompetenz ist aber die Kriegführung mit elektronischen Mitteln, der Cyberkrieg.
Einen reinen Cyberkrieg gibt es nicht. Darum ist die Vorstellung falsch, dass konventionelle Waffen überflüssig werden. Denn: Cyber ersetzt nicht die herkömmlichen Bedrohungen, sondern macht diese im Gegenteil gefährlicher.
Politisch ist der Krieg nicht zu gewinnen.
Was ist die Antwort auf diese Bedrohung?
Zentraler Bestandteil meines Auftrags ist es, die Bodentruppen zu erneuern. Ein grosser Teil der Systeme ist am Ende des Lebenswegs und muss ersetzt werden. Das hat Priorität. Cyber kommt dazu: Bei allen Truppengattungen spielen Digitalisierung und Vernetzung bereits heute zentrale Rollen. Nicht nur die ganze Armee, sondern auch jeder einzelne Truppenverband muss sich selbst im Cyberbereich schützen können.
Welche Waffen müssen schnell ersetzt werden?
Die selbstfahrenden Panzerhaubitzen vom Typ M109 stammen aus den 1970er-Jahren. Sie werden im Unterhalt immer teurer. Ausserdem sind die verschiedenen Schützenpanzer in die Jahre gekommen. Sie alle müssen in den nächsten Jahren ausgewechselt werden oder brauchen einen Werterhalt. Und schliesslich müssen auch unsere Leopard-Kampfpanzer werterhalten werden.
Letztes Jahr wurde bekannt, dass in der Armee-Informatik die Kosten aus dem Ruder liefen. Um die 100 Millionen an zusätzlichen Ausgaben zu kompensieren, wurde sogar an der Munition gespart.
Die Informatikkosten sind nicht gestiegen, weil ich als Armeechef die Cyberthematik priorisiere. Nein: Jedes Projekt hat heute einen Informatikanteil. Die verschiedenen Waffensysteme müssen miteinander elektronisch kommunizieren können. Das haben wir zu Beginn unserer Budgetierung zu wenig berücksichtigt, das stimmt.
Und wie steht es jetzt um die Munition?
Für wie viele Kampftage wir Munition haben, ist natürlich geheim. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir haben genug.
Können Sie wirklich mit gutem Gewissen sagen, die Armee sei gut aufgestellt? Waffen und Ausrüstung reichen schon jetzt nicht für den Sollbestand von 100’000 Armeeangehörigen.
Persönliche Ausrüstung und persönliche Bewaffnung sind für alle vorhanden. Bei anderem, schwerem Material gibt es tatsächlich Lücken. Da müsste man im Einsatz etwa Bestände aus Rekrutenschulen an aktive Verbände umteilen.
Warum gibt es diese Lücken?
Logischerweise wollen wir kein veraltetes Material nachbeschaffen. Ein Beispiel sind die Panzerhaubitzen, von denen ich vorher gesprochen habe.
FDP und SVP fordern eine sofortige Aufstockung des Militärbudgets von 5 auf 7 Milliarden Franken. Würde das helfen?
Eine solche Aufstockung der Militärausgaben wäre hochwillkommen. Sie würde die nötige und dringende Erneuerung erleichtern und beschleunigen. Aber: Überstürzt Milliarden für neue Waffen auszugeben, wäre falsch. Die Steuerzahler würden Fehler in der Beschaffung nicht goutieren.
Es ginge also darum, bereits beschaffungsreife Waffen zu kaufen?
Richtig. Gemäss unseren Berichten ans Parlament brauchen wir 6 Milliarden Franken für Kampfflugzeuge, 2 Milliarden für die Boden-Luft-Verteidigung und 7 Milliarden für die Bodentruppen. Die Aufstockungen könnten die Erreichung der Ziele beschleunigen oder die Fähigkeiten weiterentwickeln. Wir könnten gewisse Projekte im Rahmen der bisherigen Planungen vorziehen.
Um welche Projekte geht es da konkret?
Die neuen 12-Zentimeter-Mörser sind beschaffungsreif. Davon könnten wir mehr bestellen. Die schweren gepanzerten Fahrzeuge habe ich bereits erwähnt.
Die Bürgerlichen fordern nicht nur mehr Geld, sondern auch einen Ausbau des Sollbestands auf 120’000 Armeeangehörige. Würden Sie das begrüssen?
Im Bericht über die Zukunft der Bodentruppen haben wir dem Bundesrat 2019 drei Szenarien präsentiert. Der Bundesrat hat sich für das mittlere Szenario entschieden. Es setzt einen Sollbestand von 100’000 Armeeangehörigen voraus und ist auf die Abwehr hybrider Bedrohungen ausgerichtet. Eine Erhöhung auf 120’000 entspräche dem dritten Szenario. Diese hätte den zusätzlichen Vorteil, dass unsere Durchhaltefähigkeit erhöht würde.
Beschaffungsreif ist der Kampfjet F-35. Aber dagegen werden Unterschriften gesammelt. Die Gegner sagen: Russland hat die ukrainischen Militärflugplätze ausgeschaltet und die Kommandostrukturen zerschlagen. Darum sollte die Schweiz die Bodentruppen stärken, statt neue Kampfflugzeuge zu kaufen.
Nun ja: Präsident Selenski hat explizit darum gebeten, der Ukraine mehr Kampfflugzeuge zu liefern. Am Tag 12 der Invasion war die ukrainische Luftwaffe immer noch teilweise operativ. Kampfflugzeuge spielen eine wichtige Rolle in einem modernen Krieg.
Cyber ersetzt nicht die herkömmlichen Bedrohungen, sondern macht sie gefährlicher.
Auch in der Schweiz?
Die Jets der neuesten Generation sind nicht einfach Kampfflugzeuge, sondern Sensoren und elektronische Gefechtsstände. Mit ihnen können wir Aufklärung in einer Tiefe und Reichweite betreiben, wie wir es mit keinem anderen Mittel machen können. Sie unterstützen uns beim Erkennen von Gefahren, etwa von Marschflugkörpern. Mit der Luftwaffe koordinieren und steigern wir letztlich die Wirkung aller anderen Waffengattungen.
Und die F-35 ist der richtige Jet für die Schweiz?
Zu 100 Prozent! Die F-35 ist ein Glücksfall, weil er für unsere Zwecke der beste Jet ist und auch noch der preisgünstigste. Dabei war ich zu Beginn auch skeptisch. Aber ich habe dann gesehen, dass er in praktisch allen Auswahlkriterien den anderen Kandidaten überlegen ist …
Sie tönen richtig begeistert. Ärgern Sie sich, dass der Widerstand gegen die F-35 so gross ist und Unterschriften dagegen gesammelt werden?
Ich ärgere mich nicht über den Widerstand, den bin ich gewohnt. Ich ärgere mich darüber, dass es uns bisher zu wenig gelungen ist, zu erklären, warum es einen neuen Jet braucht und warum die F-35 der richtige ist.