Für sie ist Russland ein alter Schrecken
Pälvi Pulli ist die wichtigste Sicherheitsberaterin der Schweiz. Die gebürtige Finnin sagt, welche Lehren die Schweiz aus dem Krieg ziehen soll.
24.07.2022 | Alan Cassidy, NZZ am Sonntag

Es fällt auf, wenn in Krisenzeiten eine Beamtin für die Regierung spricht, die die Schweiz erst kennenlernen musste, mit Fleiss und dem Blick von aussen. Diese Woche sass Pälvi Pulli wieder im Studio von SRF, der «Club» diskutierte über Waffenlieferungen an die Ukraine, und die oberste Schweizer Sicherheitsberaterin vertrat eine klare Meinung: «Solange sich die Ukraine mutig gegen den Aggressor wehrt, hat sie Anspruch auf unsere Unterstützung und nicht auf Bevormundung.»
Es gibt in Bern viele Beamte und Politikerinnen, die sich täglich mit Russland und dem Krieg in der Ukraine beschäftigen. Für viele von ihnen bleibt der Zugang abstrakt. Bei Pälvi Pulli ist das anders. Wenn die 51-Jährige über Russland spricht, ist das – bei aller nüchternen Analyse – auch persönlich.
Pullis Grossvater ist 100 Jahre alt, und in ihrer alten Heimat Finnland ist er ein Held, einer der letzten noch lebenden Veteranen des Winterkriegs von 1939. Als die Sowjetunion Finnland überfiel, kämpfte er in der finnischen Armee. Granatsplitter verletzten ihn schwer. Es dauerte lange, bis er über seine Erlebnisse sprach. Und doch war die Erinnerung an den Krieg stets präsent. «Fast jede Familie in Finnland hatte Kriegsopfer zu beklagen», sagt Pulli. «Wenn man in Finnland aufwächst, ist Russland der grosse Bär, bei dem man nie sicher ist, was er vorhat. Mit einem solchen Nachbarn zu leben, das prägt.»
Die Herkunft von führenden Beamten im Verteidigungsdepartement (VBS) ähnelte sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr. Es waren fast immer Männer, oft höhere Miliz- oder Berufsoffiziere, nicht selten Freisinnige, und wenn einer von ihnen passables Englisch sprach, stach er damit bereits hervor.
Auch Pälvi Pulli fällt aus der Reihe. Sie war 21 Jahre alt, als sie nach einer Jugend in der Universitätsstadt Jyväskylä in die Schweiz kam. Sie hat weder Militärdienst geleistet, noch ist sie Mitglied einer Partei. Sie spricht sechs Sprachen fliessend, darunter Russisch. Seit 2018 ist sie nun als erste Frau Chefin Sicherheitspolitik im VBS. Zu Beginn trat Pulli öffentlich kaum in Erscheinung. Seit dem russischen Überfall tritt sie nun öfter auf, in Talkrunden, in Zeitungsinterviews, an Veranstaltungen. Und was die Debatte über die Neutralität der Schweiz angeht, wagt sie sich dabei bisweilen recht weit vor. Wer ist diese Frau?
Sie lotet die Grenzen aus
Ein Julitag im Bundeshaus Ost, in Pullis Büro. Das Fenster mit Blick auf die Alpen steht offen, Pulli nimmt am Sitzungstisch Platz und begrüsst in fast perfektem Schweizerdeutsch. Im VBS führt Pulli eine Abteilung mit zwei Dutzend Mitarbeitenden. Sie erstellt Lagebeurteilungen für ihre Vorgesetzte, Verteidigungsministerin Viola Amherd, und sie legt im Sicherheitspolitischen Bericht die Leitlinien der Sicherheitspolitik fest. Derzeit erarbeitet sie einen Zusatzbericht, der aufzeigen soll, welche Optionen die Schweiz angesichts des Kriegs hat – und welche Rolle die Neutralität dabei spielt.
Die Stossrichtung zeichnet sich dabei schon ab: Die Schweiz dürfte künftig näher an die Nato heranrücken. Pulli selbst will das nicht so nennen. «Ich finde den Begriff Annäherung nicht glücklich. Das tönt, als verfolgte man das Ziel, den Beitritt zur Nato vorzubereiten. Aber das ist nicht unsere Absicht.» Der russische Überfall unterstreiche aber, wie wichtig die militärische Zusammenarbeit mit den europäischen Staaten sei – und jene mit der Nato. «Diese Kooperation muss ausgeglichen sein. Es ist ein Geben und Nehmen. Und deshalb schauen wir, was wir unter Einhaltung der rechtlichen Verpflichtungen der Neutralität leisten können.»
Was das heissen könnte, skizzierte Pulli kürzlich in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, das im In- und Ausland auf grosse Beachtung stiess. Darin sprach Pulli von vermehrten Übungen mit Nato-Streitkräften, von hochrangigen Treffen auf politischer und militärischer Ebene – und von der erleichterten Weitergabe von Kriegsmaterial. Niemand erwarte, dass die Schweiz direkt Waffen an die Ukraine liefere oder sogar der Nato beitrete, sagt Pulli. «Aber es gibt von vielen Ländern die Erwartung, dass die Schweiz mehr tut. Es wird kaum verstanden, dass sie den Partnern die Wiederausfuhr von bereits geliefertem Kriegsmaterial nicht ermöglicht.»
Die Neutralität bedeute für die Schweiz nur zwei klare Einschränkungen, sagt Pulli: Sie dürfe keinem Bündnis beitreten, das sie verpflichtet, im Kriegsfall einen anderen Staat militärisch zu unterstützen. Und sie dürfe sich in keine militärische Abhängigkeit eines anderen Landes begeben. «Aber jenseits dieser Grenzen gibt es viele Möglichkeiten, die man nutzen kann, wenn man das will.»
Die Kooperation mit der Nato beschäftigt Pulli schon seit ihrem ersten Job im VBS, den sie 1999 antrat. Damals erfuhr Pulli auch, was es heissen kann, in einem Bereich zu arbeiten, der von Männern dominiert wird. Als sie den Auftrag erhielt, einen Auslandsbesuch von Verteidigungsminister Samuel Schmid vorzubereiten, weigerte sich der zuständige Schweizer Verteidigungsattaché zunächst, mit ihr zusammenzuarbeiten – weil sie eine junge Frau war, wie sie vermutet. «Eine schmerzhafte Erfahrung.» Und doch: Es blieb die einzige dieser Art. Pulli machte beim Bund Karriere, zuerst im VBS, danach im Justizdepartement. Nachdem sie vor vier Jahren ihren heutigen Posten übernommen hatte, schrieb eine finnische Zeitung, Pullis Aufstiegsgeschichte lese sich wie aus einem Märchenbuch.
Und es hat ja auch was. Ihr erstes Geld in der Schweiz verdiente Pulli als Kellnerin. Sie war nach dem Gymnasium durch Europa gereist, wollte nur kurz in der Schweiz bleiben – und blieb dann, nachdem sie ihren späteren Mann kennengelernt hatte. Sie studierte Geschichte in Neuenburg, ihre Lizentiatsarbeit schrieb sie über militärische Einsätze im Inland.
Der fehlende «Stallgeruch»
In Militärkreisen gilt Pulli als Verwaltungsmensch. Manche Offiziere kritisieren, dass ihr der «Stallgeruch» fehle und das praktische Wissen, was den Zugang zur Armeeführung erschwere. Und oft fällt in Gesprächen der Hinweis darauf, dass Pulli einst in einer Beziehung mit Christian Catrina war, den sie als Chefin Sicherheitspolitik beerbte. Eine Kritik, die sich eine Frau vielleicht eher anhören muss als ein Mann.
Von Sicherheitspolitikern im Parlament hört man über Pulli dagegen viel Positives. «Sie hat sich sehr gut in den Ukraine-Krieg eingearbeitet», sagt Werner Salzmann (SVP), Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats. «Die Lagebeurteilungen, die wir von ihr erhalten, sind präzis und fundiert.» SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf sagt über Pulli: «Sie kennt besonders die aussenpolitische Dimension der Sicherheitspolitik hervorragend. Damit bringt sie einen Gesamtblick ein, den man im VBS zu wenig hat.»
So viel Lob mag erstaunen, ist Pulli doch auch in die umstrittene Beschaffung des US-Kampfjets F-35 verwickelt. Kürzlich machte SRF publik, dass Amherds Chefbeamtin 2021 Mitglied einer Arbeitsgruppe war, die mit anderen Herstellerstaaten mögliche Gegengeschäfte auslotete. Pulli sagt dazu, sie habe Anfang Mai 2021 letztmals an einer Sitzung der Gruppe teilgenommen – zu einem Zeitpunkt also, als noch keine Entscheidung für den F-35 gefallen war. Seither sei sie in keine Sondierungen mit anderen Staaten involviert gewesen und über allfällige Kontakte anderer Departemente wisse sie nichts.
Lieber spricht sie über den Kriegsausbruch in der Ukraine. Dieser habe sie nicht «komplett überrascht»: Es sei schon lange klar gewesen, dass von Russland eine Bedrohung für die Sicherheit Europas ausgehe. «Überraschend ist aber, wie hemmungslos sich Russland des vollen Spektrums der Kriegsführung bedient. Die Blockade von Getreideexporten, die Bombardierung von ziviler Infrastruktur, die offensichtlichen Kriegsverbrechen: Das ist erschütternd.»
Erschüttert waren auch die Menschen in Pullis alter Heimat. In Finnland zeigten die Umfragen einen rasanten Meinungswandel, was eine Nato-Mitgliedschaft des traditionell bündnisfreien Landes angeht. Im Mai stellte die Regierung dann ein Beitrittsgesuch. Pulli glaubt, dass das Umdenken schon Ende 2021 einsetzte, als Russland forderte, dass die Nato keine neuen Mitglieder aufnehmen dürfe. «Da sagten sich viele: Jetzt erst recht. Das ist ein Anspruch auf eine Einflusssphäre, das lassen wir uns von Moskau nicht diktieren.»
Auch das sei finnisch, sagt Pulli: eine gewisse Hartnäckigkeit, eine direkte Art zu kommunizieren. Eigenschaften, die auch auf Pulli zutreffen. «Im VBS mussten sich viele Leute erst daran gewöhnen», sagt sie. Eben: Herkunft prägt.