Brauchen wir jetzt eine bessere Verteidigung, um uns vor Russland zu schützen?
Verteidigungsministerin Viola Amherd äussert sich in der Sonntagszeitung zu den Herausforderungen, denen sich die Schweiz in der aktuellen Situation im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stellen muss.
06.03.2022 | Sonntagszeitung
Interview: Adrian Schmid und Mischa Aebi
Frau Amherd, führen mehr Waffen wirklich zu mehr Frieden?
Die internationale Friedensförderung ist selbstverständlich eine wichtige Aufgabe der Armee. Dafür mache ich mich stark. Aber jetzt müssen wir ebenso darüber reden, wie wir unsere Bevölkerung in der Schweiz vor Gefahren schützen können. In der Ukraine haben wir leider gesehen, dass allein mit gutem Willen keine Kriege verhindert werden können. Wir müssen für alle Risiken gerüstet sein. Alles andere könnte ich als Verteidigungsministerin nicht verantworten.
Jetzt haben Sie neue Argumente für den Kampfjetkauf und können gar eine Aufstockung des Armeebudgets fordern.
Mir wäre es lieber, es bräuchte keinen Krieg, um die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass wir in die Erneuerung der Armee investieren müssen. Lange hat sich niemand für unsere Einschätzungen der Bedrohung interessiert. Nun zeigt sich, dass wir recht hatten. Sicherheit ist weder selbstverständlich noch gratis. Diese Erkenntnis wird die Abstimmung über die neuen Kampfjets beeinflussen.
Wird es nun wesentlich einfacher, den Kauf der Kampfjets durchzubringen?
Davon gehe ich aus. Eine Garantie hat man aber nie.
Die Erneuerung der Luftwaffe hat oberste Priorität
War es nicht eine unnötige Provokation, das Initiativkomitee gegen den Kauf der F-35-Kampfjets aufzufordern, ihr Begehren fallen zu lassen?
Eine Aufforderung war es nicht. Ich habe die Initianten eingeladen, den Rückzug der Initiative in Erwägung zu ziehen. Die Ausgangslage hat sich durch den Krieg in der Ukraine massiv verändert. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir sollten den Beschaffungsprozess nicht unnötig verzögern. Sonst riskieren wir ab 2030 eine Sicherheitslücke, wenn wir die alten F/A-18 aus dem Betrieb nehmen müssen.
Ist das nicht Angstmacherei?
Nein, Finnland hat sich kürzlich ebenfalls für den Kauf der F-35 ausgesprochen. Deutschland zieht die Beschaffung dieses Flugzeugs neuerdings in Betracht. Wenn wir unsere Bestellung nicht bald in Auftrag geben, kommen andere Länder möglicherweise früher zum Zug, und wir müssen noch länger warten.
Was könnte konkret die Schweiz bedrohen?
Möglich sind indirekte Auswirkungen von internationalen Konflikten. Das können zum Beispiel Cyberangriffe sein. Und wir müssen auch bereit sein, unseren Luftraum zu schützen, damit dieser nicht von einer Konfliktpartei zum Überflug missbraucht wird.
Letzteres wäre für die Schweiz eine überschaubare Bedrohung. Dafür braucht es nicht so viele Kampfjets und vor allem nicht so teure.
Unsere Kampfjets müssen für den Verteidigungsfall gerüstet sein. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs auf unser Land klein ist: Bei einer Risikoanalyse zählt eben nicht nur die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Vorfalls, sondern auch dessen Schadenspotenzial. Der Schaden bei einem Angriff wäre riesig. Die aktuelle Situation in der Ukraine zeigt uns, dass man auf alle Bedrohungen vorbereitet sein muss.
Aber die Schweiz liegt im Herzen Europas. Wer kommt denn realistischerweise als Angreifer infrage?
Sie können von mir jetzt nicht erwarten, dass ich Ihnen ein Land als möglichen Angreifer nenne. Ich weise Sie nur darauf hin, dass Nato-Länder wie Polen direkt an die Ukraine grenzen. Wir wissen nicht, ob der Konflikt noch weiter eskaliert.
Was wollen Sie damit sagen?
Wenn die Nato involviert wird, sind automatisch auch unsere direkten Nachbarländer betroffen. Dann ist der Konflikt plötzlich noch näher. Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Und ich will nicht Panik schüren, ich sage Ihnen das nur, weil Sie nach potenziellen Angreifern fragten.
Dann brauchen wir also eine Verteidigung, um uns vor Russland zu schützen?
Ich kann dieses Szenario weder bestätigen noch ausschliessen. Das wäre Kaffeesatzlesen.
Einen direkten Angriff auf die Schweiz erachte ich nach wie vor als unwahrscheinlich
Hatten Sie Überfall Russlands auf die Ukraine als Option überhaupt auf dem Schirm – oder müssen jetzt sämtliche Verteidigungspläne neu ausgearbeitet werden?
Wir haben all das, was jetzt eingetreten ist, schon im letzten Jahr im sicherheitspolitischen Bericht beschrieben. Dort steht, dass die Lage instabiler geworden sei, die Grossmächte ihre Interessen ruchloser verfolgten und es an den Rändern von Europa zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen könne. Wir müssen jetzt nicht sämtliche Pläne anpassen. Es ist jedoch eine Aufgabe der Armee, die Situation laufend zu analysieren und falls nötig zu reagieren. Das machen wir auch jetzt.
Sie wollen nicht nur die Kampfjetbeschaffung beschleunigen, sondern auch das Armeebudget erhöhen. Was brauchen Sie denn?
Die Armee hat bereits umfangreiche Planungen gemacht. Die Erneuerung der Luftwaffe hat oberste Priorität. Zudem müssen wir uns besser gegen Cyberattacken wappnen und die Bodentruppen neu ausrüsten. Wenn die Möglichkeit besteht, der Armee mehr Gelder zuzuführen, können wir all das rascher umsetzen.
Wie viel Geld ist nötig?
Ich will keine Zahl nennen. Wir werden uns weiterhin mit dem Budget arrangieren, das uns vom Parlament zur Verfügung gestellt wird.
SVP und FDP fordern jetzt eine Erhöhung von fünf auf sieben Milliarden Franken pro Jahr.
Längerfristig ist eine Aufstockung des Armeebudgets um zwei Milliarden Franken eine Option für mich. Das ist viel Geld, und es muss sinnvoll eingesetzt werden. Es bringt wenig, den Etat von heute auf morgen so viel zu erhöhen. Besser ist es, dies kontinuierlich zu tun.
Wäre es nicht günstiger und sicherer, wenn sich die Schweiz der Nato anschliessen würde?
Das ist keine Option für mich. Als souveränes, neutrales Land müssen wir uns in erster Linie selbst schützen können. Darum braucht es ja die Investitionen in die Luftwaffe und die Bodentruppen. Wir können uns nicht einfach als Trittbrettfahrer auf andere verlassen, und es würde für uns viel teurer. Wir müssten dann wie alle Nato-Länder zwei Prozent des BIP in die Landesverteidigung investieren.
Jetzt ist es viel weniger. Ist es nicht naiv, zu glauben, dass sich die kleine Schweiz allein gegen einen grösseren Angreifer verteidigen könnte?
Sollte die Schweiz tatsächlich angegriffen werden, würde die Neutralität der Schweiz entfallen. Dann könnten wir beispielsweise mit Nachbarländern zusammenarbeiten. Darum ist es wichtig, dass unsere militärischen Systeme kompatibel sind mit umliegenden Ländern und dass wir gemeinsame Übungen machen. Wir haben ja auch mit der Nato eine Zusammenarbeit. Es geht darum, dass wir im Kriegsfall neben der selbstständigen Verteidigung auch die Option der Zusammenarbeit haben.
Sollten wir denn nicht gleich der Nato beitreten?
Wir wären dann in einem Bündnis und müssten unsere Neutralität aufgeben. Das sehe ich nicht.
Mit dem Entscheid des Bundesrats, die EU-Sanktionen gegenüber Russland zu übernehmen, hat die Schweiz ihre Neutralität aber auch schon etwas aufgegeben.
Der Bundesrat hat sich diese Frage gut überlegt. Neutralität heisst aber nicht, dass man keine Meinung haben darf. Es heisst vielmehr, dass wir die Werte des Völkerrechts hochhalten und uns zu diesen bekennen, insbesondere, wenn so gravierende Verstösse eintreten wie jetzt in der Ukraine. Die Sanktionen, die wir jetzt beschlossen haben, sind mit der Neutralität kompatibel.