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«Spionage und Cyberattacken sind in der Schweiz denkbar»

Die russische Invasion in der Ukraine bedeute eine «epochale Zeitenwende», sagt Pälvi Pulli, Chefin Sicherheitspolitik im Verteidigungsdepartement VBS. Bei einer weiteren Eskalation drohen der Schweiz mindestens indirekte Folgen in Form von Cyberangriffen, Spionage oder Störungen der kritischen Infrastruktur.

23.02.2022 | Aargauer Zeitung

Pälvi Pulli, Chefin Sicherheitspolitik VBS. © Keystone-SDA

 

Interview: Christoph Bernet
Das Interview wurde am Mittwoch, 23. Februar 2022, geführt

Ist die Schweiz überrascht worden von der Eskalation in der Ostukraine oder hat man diese Krise kommen sehen?

Pälvi Pulli: Wir stellen schon länger wachsende Spannungen, eine gesunkene Schwelle für die Androhung und Anwendung von Gewalt und eine allgemeine Zunahme von Instabilität und Konflikten fest. Das ist im sicherheitspolitischen Bericht festgehalten. Insofern hat uns das nicht überrascht. Auch wenn sich die russische Rhetorik seit Monaten verschärft hat, war das Tempo und das Ausmass der Eskalation durch Russland dennoch nur schwer vorauszuahnen. Eine so offenkundige Verletzung des Völkerrechts und der territorialen Souveränität eines Staates in Europa ist etwas Ausserordentliches.

Mit welcher Entwicklung des Konflikts rechnet die Schweiz?

Eine weitere Eskalation ist jederzeit möglich. Bezüglich Deeskalation sieht es momentan schlecht aus. Man muss insofern mit allen möglichen Entwicklungen rechnen. Doch es wäre kontraproduktiv, nun über die nächsten Schritte zu spekulieren, die Wladimir Putin planen könnte. Sicher ist: Putin beobachtet derzeit sehr genau, wie die westlichen Staaten auf provokative Aktionen reagieren, wie etwa die Anerkennung der beiden Separatistengebiete in der Ostukraine als unabhängige Staaten.

Müssen wir mit einem grossflächigen bewaffneten Konflikt in Europa rechnen, gar mit einer Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato?

Es ist nicht mit einer Involvierung der Nato zu rechnen. Das hoffen wir zumindest alle. Die USA und die anderen Nato-Staaten haben klargemacht, dass sie keine Soldaten in die Ukraine schicken werden, die Ukraine aber in anderer Form unterstützen dürften. Die entscheidende Frage derzeit ist, ob Putin bereit ist, über eine Präsenz russischer Truppen in den bereits von Separatisten kontrollierten Gebieten hinauszugehen.

Was ist, wenn er es tut?

Weder Russland noch die Nato haben ein Interesse an einer direkten bewaffneten Konfrontation miteinander. Klar ist: Dieser Konflikt und die damit verbundenen Spannungen werden nicht so schnell wieder verschwinden. Man kann deshalb von einer Zeitenwende, vielleicht einem epochalen Wechsel in der Sicherheitspolitik ausgehen. Hier stellt ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats die Legitimität eines grossen, europäischen Staats in Frage oder verneint diese Legitimität sogar. Das ist aussergewöhnlich. Eine Rückkehr zum Courant normal wird es so schnell nicht geben.

Wie kann eine weitere Eskalation verhindert werden?

Die Einigkeit und Deutlichkeit der Reaktion der westlichen Staaten ist bemerkenswert. Möglicherweise hat das Putin überrascht und die Konsequenzen, die Russland im Falle einer weiteren Eskalation zu tragen hätte, fliessen in seine Überlegungen mit ein. Die Lage ist besorgniserregend und bleibt volatil.

Welche konkreten Folgen für die Schweiz hätte eine weitere Eskalation des Konflikts?

Zunächst einmal: Mit einem direkten militärischen Angriff auf die Schweiz rechnen wir nicht. Aber die Schweiz ist Teil der europäischen Staatengemeinschaft. Indirekte Folgen einer weiteren Eskalation wären auch hierzulande zu spüren. Während in der Ukraine mit bewaffneten Auseinandersetzung zu rechnen ist, würde Russland im Rest Europas wohl im Rahmen der sogenannten hybriden Kriegsführung auf andere Mittel setzen.

Womit ist zu rechnen?

Denkbar wären Cyberangriffe, Spionage gegenüber hier stationierten ausländischen Diplomaten und internationalen Organisationen. Theoretisch denkbar sind auch Störungen bei grenzüberschreitenden kritischen Infrastrukturen, etwa im Energie- und Kommunikationsbereich. Was wir bereits beobachten, sind möglicherweise Desinformationsaktivitäten in den Sozialen Medien, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch konfliktbedingte Migrationsbewegungen sind möglich, die sich bis in die Schweiz auswirken könnten.

Wie bereitet sich der Bund auf solche Szenarien vor?

Die Koordination zwischen potenziell betroffenen Bereichen und die Erarbeitung von möglichen Massnahmen gehört zu den ständigen Aufgaben der Verwaltung.

Die Sicherheit der neutralen Schweiz wird de facto auch vom westlichen Verteidigungsbündnis Nato garantiert. Wie eng ist in der aktuellen Krisensituation der Austausch mit der Nato?

Die Schweiz ist seit 1996 Mitglied der «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) der Nato. Diese erlaubt eine sehr weitgehende, flexible Kooperation bei Ausbildung, militärischen Übungen und in thematischen Feldern wie etwa Cyber. Das ist unsere einzige institutionelle Verbindung zur Nato. Darüber hinaus gibt es regelmässige bilaterale Ministerkontakte zu Nato-Staaten, auch durch Bundesrätin Viola Amherd. Wir sehen aufgrund der aktuellen Situation keine Notwendigkeit, an dieser Form der Beziehungen zur Nato etwas zu verändern.

Man hat aus dem VBS in jüngster Vergangenheit viel von Cyberangriffen und hybrider Kriegsführung gehört. Jetzt droht in Europa ein bewaffneter Konflikt mit Panzern, Artillerie und Kriegsschiffen. Hat man sich in falscher Sicherheit gewiegt und diese Möglichkeit unterschätzt?

Nein, wir haben immer deutlich betont, dass diese neuartigen Bedrohungen die herkömmlichen Bedrohungen nicht verdrängen. Heute haben wir ein unübersichtlicher gewordenes Nebeneinander verschiedener Bedrohungsformen. Das ist typisch für die veränderte Art, wie Konflikte geführt werden. Diese werden heute unter dem Einsatz aller, zum Teil auch verdeckter, Mittel geführt, um einen Staat zu destabilisieren. Um keine Gegenreaktion zu provozieren, will man die Schwelle eines herkömmlichen, bewaffneten Konflikts möglichst nicht überschreiten. Aber wir haben die Möglichkeit herkömmlicher Bedrohungen in Form von bewaffneten Konflikten immer ernst genommen, zumal sie gravierende Auswirkungen haben können. Deshalb modernisieren wir auch die Ausrüstung der Armee, indem wir in neue Kampflugzeuge und bodengestützte Luftverteidigung investieren.

Stimmt die Ausrichtung der Armee angesichts der Ukraine-Krise noch?

Die heutige Situation stellt die Ausrichtung der Armee nicht in Frage. Die Bedrohungslage, wie wir sie jetzt und schon länger sehen, ist in die Weiterentwicklung der Armee eingeflossen.Angesichts der Vielfalt der Bedrohungen muss die Armee als sicherheitspolitisches Instrument breit aufgestellt sein. Die Wahrscheinlichkeit ist weiterhin tief, dass die Schweiz direkt betroffen wird von einem bewaffneten Konflikt in ihrem Umfeld. Aber angesichts der gravierenden Auswirkungen einer solchen Bedrohung müssen wir auch darauf vorbereitet sein.

Wird der Ukraine-Konflikt die Diskussion über die Beschaffung des Kampfjets F-35 beeinflussen?

Mittlerweile ist es wohl offensichtlich geworden, dass es tatsächlich zu bewaffneten Konflikten in Europa kommen kann, unweit von der Schweizer Grenze entfernt. Das unterstreicht die Notwendigkeit, den eigenen Luftraum schützen zu können, auch um nicht in Konflikte hineingezogen zu werden.

Welche Folgen hat Russlands Verhalten auf die globale sicherheitspolitische Lage?

Die Folgen sind noch schwer abzuschätzen. Mir scheint, dass die USA und ihr sicherheitspolitischer Fokus, der sich zuletzt wegen dem Aufstieg Chinas nach Asien und in den Pazifikraum verlagert hat, sich wieder stärker nach Europa ausrichtet. Die Regierung Biden hat auch stets ihre Verbundenheit zu Europa und zur gemeinsamen Verteidigung der Nato betont. Andererseits stellt sich die Frage, wie das Vorgehen Russlands dessen Verhältnis zu China beeinflusst. Und drittens sehen wir ein klares Zusammenrücken und eine bemerkenswerte Einigkeit der westlichen Länder als Reaktion auf Putins Verhalten. Ob der Konflikt in der Ukraine separatistische Kräfte in anderen Weltregionen zu neuen Konflikten ermutigt, darüber möchte ich nicht spekulieren. Kurzfristig rechne ich nicht damit.

Aber in seiner Rede hat Putin letztendlich die ganze Sicherheitsordnung der Ära seit dem Kalten Krieg in Frage gestellt?

Die russische Regierung unter Wladimir Putin vertritt schon seit längerem ein Weltbild, das auf Einflusssphären basiert und in dem das Selbstbestimmungsrecht und die territoriale Integrität von Staaten offenbar wenig Gewicht haben. Zuletzt hat man den Eindruck bekommen, Russland wolle die Zeit um dreissig Jahre zurückdrehen. Doch der Rest der Welt hat sich verändert seit dem Ende der Sowjetunion. Das Infragestellen der Souveränität der damals unabhängig gewordenen Staaten und damit der Sicherheitsordnung der letzten Jahrzehnte ist besorgniserregend und auch verstörend.

Erleben wir gerade das Ende der regelbasierten internationalen Ordnung, von der die Schweiz stark profitiert hat?

Positiv ausgedrückt könnte man sagen: Es ist noch nicht so weit. Wir haben momentan einen Staat, wenn auch einen wichtigen, der diese regelbasierte internationale Ordnung infrage stellt und Staatsgrenzen verändern will. Aber wir sollten deshalb nicht aufhören, die Idee der Macht des Rechts gegenüber dem Recht des Mächtigen zu verteidigen. Die Schweiz wird sich weiterhin zu diesen Werten bekennen und dafür einsetzen.


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